"Unsere Träume passen nicht in ihre Urnen". Ein feministischer Blick auf Wahlen und Politik in Bolivien

Gespräch mit einer Vertreterin des Kollektivs Mujeres Creando in La Paz

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Als Ausdruck des Protests zum Tag der Frau am 11. Oktober und zum Tag der Dekolonialisierung am 12. Oktober hat das Kollektiv Mujeres Creando in La Paz die Statue der Isabel, die Katholikin, in eine indigene Chola verwandelt. Als Chola werden in Bolivien mestizische oder indigene Frauen aus dem Hochland bezeichnet, die äußerlich durch eine traditionelle Art der Kleidung und Melonenhüte auffallen. Der Sockel wurde mit roter Farbe bemalt. Symbolisch wurde der Platz in «Platz der globalisierten Chola» umbenannt, wie auf einem Schild an der Statue zu lesen ist.

Auf weiteren Plakaten stand: «Weder Jeanine aufgrund ihres Frau-seins, noch Isabel mit ihrer Macht repräsentieren für uns Frauen Freiheit und Vergnügen». Damit äußert das Kollektiv seine Ablehnung des Katholizismus und der aktuellen De-facto-Regierung mit Jeanine Áñez an der Spitze.

«Viele Menschen vertrauen in die Wahlen und darauf, dass die Kandidaten unsere politische und ökonomische Situation verändern. Doch der Rassismus und die Klassenunterschiede erleben in der bolivianischen Gesellschaft eine neue Konjunktur und werden von der Übergangsregierung befördert», sagte Yola Mamani, Chola und Aktivistin von Mujeres Creando auf der Kundgebung. Mamani erinnerte daran, dass es Cholas gebe, die sich aus dem Opferdasein befreit und ihre Würde als Menschen zurückerobert hätten. Dennoch seien sie täglich Diskriminierung ausgesetzt, was sich in letzter Zeit verschärft habe.

Die De-facto-Regierung «ist eine faschistische Regierung mit einem Überschwang an Rassismus und religiösem Fundamentalismus. Eine komplette Inszenierung für ein Projekt der Oligarchie, die den Staat und die öffentlichen Güter beraubt zum direkten Vorteil einer Unternehmerklasse. Ohne jeden Zweifel ist dies die miserabelste Regierung in der Geschichte Boliviens», erläutert María Galindo gegenüber amerika21.

Galindo hat vor 28 Jahren das Kollektiv Mujeres Creando mitbegründet. Sie beschreibt sich selbst als Feministin und Aktivistin des Kollektivs, ethnisch gesehen als «Bastard». Sie versteht sich als Anti-Señorita, Lesbe und Nymphomanin. Sie arbeitet als Autorin, Graffitimalerin, Radiomacherin und zeitweise Universitätsprofessorin. Sie sagt von sich selbst, sie sei eine Unruhestifterin auf der Straße und im öffentlichen Raum. Sie ist in ihren Radiointerviews für Radio Deseo dafür bekannt, kein Blatt vor den Mund zu nehmen.

«Die Ursprungsidee von Mujeres Creando bestand darin, einen Raum zu schaffen für Kritik an der Position der Frauen in der bolivianischen Linken der 1990er Jahre und ihrem Mangel an Selbstreflexion. Gleichzeitig lehnten wir das neoliberale Modell der Nichtregierungsorganisationen und ihrem Verständnis der Kategorie Geschlecht ab», erklärt sie die Anfänge ihres Kollektivs.

Sie arbeiten eigenständig und schließen sich lediglich thematischen Bündnissen an, solange sie ihren ethischen Prinzipien entsprechen. Das bedeutet: null Rassismus, null Homophobie, Respektierung von Abtreibung und Sexarbeit, keine Parteien, Kirche und NGO. Von Beginn an sei es ihnen darum gegangen, einen Feminismus mit eigenen Überlegungen zu entwickeln. Ihnen war klar, dass ein Feminismus zentraleuropäischer Provenienz nicht einfach auf andere Gesellschaften der Welt übertragen werden könne. Sie hätten die multiplen Feminismen einer neuen Lesart unterzogen.

Mujeres Creando sind vor allem für ihre Performances, künstlerischen Aktivitäten, Provokationen im öffentlichen Raum, Graffitis, aber auch Bürobesetzungen bekannt. Galindo sagt von sich selbst, dass sie ihrer Biografie ein eigenes Kapitel zu erinnerungswürdigen Besetzungen widmen könne. Das sei einer ihrer Stärken.

«In Sachen Systemveränderung sind wir aber ein kompletter Reinfall. Wir haben absolut nichts erreicht und leben weiterhin in der vollkommenen Machtlosigkeit», reflektiert sie die vielen Jahre ihres Aktivismus. Bewegt haben sie trotzdem eine ganze Menge. Im letzten Jahr haben sie nach den Waldbränden im Osten des Landes Verantwortliche zum Rücktritt gezwungen. Vor zwei Jahren haben sie der Stadtverwaltung von La Paz ein Gesetz zur Regulierung von Sexarbeit vorgelegt. Ihr Entwurf wurde übernommen und verabschiedet.

Außerdem haben sie Frauenhäuser in La Paz und Santa Cruz aufgebaut. Sie seien «soziale Laboratorien der Selbstverwaltung, Treffpunkt zur Konspiration und zur Selbstentfaltung».

«All das bedeutet für uns gelebte Politik. Auf diese Weise verwandeln wir unsere utopischen Träume in konkrete und erlebbare Handlungen, die das Potential haben, das Leben der Frauen zu verändern.» Die Neuerfindung ihrer eigenen Leben sei vielleicht das wichtigste Ergebnis ihres Kampfes.

Zwar wurde unter der Ex-Regierung von Evo Morales mit der neuen Verfassung der Prozess der Dekolonialisierung in Gang gesetzt, jedoch habe selbiger zigmal dagegen verstoßen. «Stattdessen vertrete ich die These, dass es keine Dekolonialisierung ohne die Abschaffung des Patriarchats geben kann. Beide Kampffelder eröffnen einen gigantischen Horizont für die neuen Kämpfe des 21. Jahrhunderts. Weder sind dafür öffentliche Politiken noch das Zugeständnis von Rechten ausreichend, die uns ein kolonialer, liberaler Staat einräumt. Es geht vielmehr um die grundlegende Transformation der Gesamtheit sozialer Beziehungen.»

Die Klassenunterschiede seien auch nach 14 Jahren MAS-Regierung nicht verschwunden und besonders beim Thema Abtreibung offensichtlich. «Die Frage der Abtreibung ist in Bolivien eine riesige Heuchelei», so Galindo. «Es ist schlichtweg eine Klassenfrage. Sie kostet 500 US-Dollar. Alle Privatkliniken führen die Operation durch und vertuschen die Behandlung. Gleichzeitig sterben arme Frauen zu Hunderten, weil sie das Geld für die Abtreibung nicht aufbringen können. Sie sind dem riesigen Geschäft mit klandestinen, gesundheitsschädlichen Abtreibungen ausgeliefert», empört sie sich.

Ob sie morgen wählen gehe? «Die Wahlen taugen lediglich dazu, der mafiösen Truppe um Áñez die Verwaltung des Staates zu entreißen. Die Wahlen werden aber absolut nichts verändern. Wie überall auf dem Kontinent, so ist auch in Bolivien die Politik privatisiert. Wir haben zwar das Recht zu wählen, aber nicht das Recht gewählt zu werden. Die Politik hat sich zu einem einzigen Wahlspektakel und Marketing entwickelt. Sie hat nichts mit der Diskussion von politischen Lösungen, Vorschlägen oder kollektiven Entscheidungsfindungen über die Zukunft einer Gesellschaft zu tun», stellt Galindo fest.

«Unsere Träume passen nicht in ihre Urnen», sagt sie uns zum Abschluss.

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